Die Evolution des Sylter Friesenhauses

Peter Schafft

„Hat 13 Fach Haus, wovon 7 Fach Wohnhaus, als eine Kammer, Peesel und Stube, die übrigen 6 Fach bestehen in Loh und Stall, alles in zieml. baul. Stande. Hat 1 Kuh und 3 Schaafe. Seine meiste Nahrung ist die gefährliche und bey dieser Zeit fruchtlose Seefahrt, und wenig Verdienst in einigen Jahren daher gebracht."

So beschreibt nüchtern die „Anschreibung der Hufen und Ländereien der Insel Sylt" von 1709 den Staven des Austernfischers Erick Hauelken in Keitum. So oder ähnlich lesen wir über die meisten Häuser dieser Zeit auf der Insel. Zwei Sätze geben Aufschluß über Wohnen und Erwerb eines Insulaners zu Beginn des 18. Jahrhunderts.

Das Sylter Friesenhaus ist danach ein langgestrecktes, schmalrechteckiges, quergeteiltes Haus von durchschnittlich 8-14 Fach, wobei Wohn- und Wirtschaftsteil ungefähr die Hälfte ausmachen; der Wirtschaftsteil jedoch oft durch eine nachträglich winklig angefügte Scheune erweitert (in die 7 gebaut) ist. Das Ganze in Ständerbauweise errichtet und mit massiven Backsteinwänden umkleidet, stets erdgeschossig und von einem reetgedeckten Kehlbalkendach beschirmt, das über Luken unter dem halben Walm an seinen Giebelseiten erschlossen wird. Der Hauseingang an der Traufseite, meist von einem spitzen Giebel überdacht, der den Fluchtweg offen hält, wenn das Reetdach brennend über die Traufen stürzt. Die Wohnräume gruppieren sich um die Feuerstelle, einem offenen Herd, der es erlaubt, den eisernen Beilegerofen in der Stube von der Küche aus zu versorgen. Pese| und Kellerkammer bleiben unbeheizt. Schrankbetten verteilen sich an den lnnenwänden der beheizten Stuben. Ein durchgehender Flur zerteilt die west- ostgerichteten Häuser. so daß sich Norder- und Südertür gegenüberliegen. Der Dachraum birgt das Viehfutter und das Heidekraut zum Heizen. Kleinsprossige, nach außen schlagende Fenster markieren den Wohnteil, während der Wirtschaftsteil durch kleine Holzluken belüftet wurde, die jedoch im späten 18. Jahrhunder t durch halbrunde Gußeisenfenster ersetzt wurden (Bild 1). Die Außenwände rundherum sind mit ciner 3 Fuß breiten „Steinbrücke" aus kleinen l.esesteinen, Katzenköpfe genannt, umgeben, um dem von der Dachtraufe fallenden Wasser die Spritzwirkung zu nehmen. Oft am Haus ein Kohllgarten, durch eine Trockenmauer aus Findlingen gegen die frei umherlaufenden Schale geschützt.

Über das Leben der Einwohner um 1844 berichtet A. Petersen folgendermaßen: „Während der Sylter den Ocean pflügt, bewir tschaftet den Boden seiner Heimat die Sylterin. Sie pflügt, gräbt, säet, erntet, drischt daheim; sie wartet des Viehes im Stalle wie auf der Weide, sie pflegt den Garten, sie verarbeitet im Frühling den Dünger zu Brennmaterial, zu platten Soden, die man hier Fladen nennt, sie scheut die schwerste Arbeit nicht, und wir haben auf Sylt sogar viele Frauenzimmer beim Bau eines Hauses, mit Reinigen alter Ziegelsteine vom Kalk u. dgl. m., beschäftigt gesehen. Die Frauen sind hier zugleich regierende Herren und geplagte Sclaven, emancipirt und geknechtet."

Dieses über Jahrhunderte nahezu unveränderte Leben der Inselbewohner erfuhr um die Mitte des 19. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen. Bereits die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzenden Reformen, die u.a. die Auflösung der Feldgemeinschaft und die Aufhebung der Leibeigenschaft bewirkten, setzten eine Strukturveränderung in der Landwirtschaft in Gang, die mit der sog. Verkoppelung die Voraussetzung für eine rentablere Bodenbewirtschaftung schufen.

Rückgang des Walfanges, Kontinentalsperre und die günstigeren Bedingungen in der Landwirtschaft ließen so manchen Seemann seinen Beruf aufgeben und die Landwirtschaft intensiv betreiben. In vielen Häusern reichte nun der Bergeraum – meist der Dachboden – für das Erntegut nicht mehr aus. Sie mußten erweitert werden. Das geschah durch Hinzufügen einer Scheune, die auf Sylt fast regelmäßig im rechten Winkel an den Stallteil angebaut wurde.

Neben der Intensivierung der Landwirtschaft brachte das 19. Jahrhundert der Insel eine weitere einschneidende Veränderung; die bis in unsere Tage reicht und das Leben der Einwohner grundlegend änderte, der Fremdenverkehr. Durch die Berichte zahlreicher Reiseschriftsteller bekannt gemacht und mit der aufkommenden Eisenbahn für viele ermöglicht, fuhr man zur Sommerfrische auf die Nordseeinseln. „Legt Seebäder an, und eure Möven und Seeschwalben werden goldene Flügel bekommen," empfahl der Schriftsteller Theodor Mügge in seinem Roman „Der Voigt von Sylt" 1851. Die Heilkraft des Meeres wurde entdeckt, Westerland entwickelte sich zum Seebad. Ganze Stadtquartiere wurden mit Wohn- und Logierhäusern aufgebaut. Dampfschifflinien übernahmen die Verbindung zum Festland. 1862 schreibt C.P. Hansen: „Das hiesige Seebad ist jetzt ziemlich stark besucht, ca. 200 bis 300 Badegäste sollen hier sein. Ich habe fast alle Tage Besuch von Ihnen."

Auch in den Dörfern richtet man sich auf die Sommerfrischler ein. Viele Hausbesitzer schaffen Wohnraum für die Urlauber. indem sie den Stallteil umbauen. Die alten Friesenhäuser eignen sich gut dafür. Der vorhandene quer teilende Flur erschließt eine zweite separate Wohnung von 4-8 Fach, die Stallfenster werden ersetzt durch gleichartige Sprossenfenster, wie sie auf der Wohnseite vorhanden sind. Das Haus erhält damit eine symmetrische Architektur, indem der Hauseingang zur Symmetrieachse wird (Bild 2).

Die innere Ausstattung dieser zweiten Wohnung kann die hohe Wohnkultur der alten nicht aufweisen. Moderne, preiswerte Baustoffe liefern hier billigen Ersatz, versuchen aber je nach Möglichkeiten des Bauherren den Urlaubern einen gewissen „zeitgemäßen" Komfort zu bieten.

Während sich Westerland in der Gründerzeit zum städtischen Seebad entwickelt, erleben auch die Inseldörfer bauliche Einbrüche in ihre bis dahin so harmonische Siedlungsstruktur. Verwaltungsbauten – nunmehr preußisch –, Pensionen, Geschäftshäuser, alles im Stilgemenge der Jahrhundertwende, sprengen die bis dahin gültigen Maßstäbe. Auswärtige Investoren übernehmen das Baugeschehen auf der Insel und bedrängen Eigenarten und Kultur der Sylter Friesen. Mit der Gründung von Heimatvereinen und Baupflegevereinen versuchen diese dagegen anzuhalten, erliegen aber immer wieder den finanziellen Verlockungen der Spekulation. Sensible Gemüter erfreuen sich am sogenannten Heimatstil und lassen sich vom alten Bauhandwerk und den traditionellen Hausformen inspirieren (Bild 3). In Maßstab und Fluchtlinien den Forderungen der Baupolizei angepaßt, fügen sich diese Häuser dennoch fast ohne Brüche in das Bild der Siedlungen ein.

Eine eigene Siedlungspolitik betreiben die neuen Machthaber in den 30er Jahren. In der militärischen Konzeption des NS Regimes erhält die Insel eine bedeutende Rolle. Luftwaffenlazarett, Marinesiedlungen und Marinearsenal entfachen eine rege Bautätigkeit, die prägende Auswirkungen auf Landschaft und Ortsbilder hat. Auch hier dient das traditionelle Friesenhaus als Vorbild für Wohnquartiere der Wehrmacht. Regierungsbaumeister und Siedlungsplaner der Heeresbauämter, ganz im Geiste Fritz Högers, als Wiederbeleber der Backsteinbaukunst, nahmen dankbar die regionalen Formen und Materialien zum Vorbild ihrer Bauten. Im Backstein sah man einen Wesenszug nordischer deutscher Baukunst, einen allen Unbilden und Gefahren trotzenden Werkstoff. So bleibt in den neuen Siedlungen das Friesenhaus für die Ein- und Zweifamilienhäuser der dominierende Haustyp. Die Proportionen den neuen Bauvorschriften angepaßt, der vormals im Torffeuer nur schwach gebackene Ziegel durch den hartgebrannten Klinker ersetzt, das ehemals unausgebaute Dach nun mit Wohnräumen gefüllt und zur Belichtung und Belüftung mit Gauben versehen. Spitzgiebel, Sprossenfenster und Reetdach selbstverständlich, entsteht ein Siedlungshaus als Ausdruck der neuen Baugesinnung, das seine traditionellen Wurzeln nicht verleugnet. Bescheidenheit und Solidität vermittelnd wie seine Vorgänger, jedoch nun ausschließlich dem Wohnen dienend. Das individuelle, fast autarke Friesenhaus wird hier als Einzelgebäude unwesentlich, als Siedlung wird es zum Ausdruck der Einheit des Zusammenwohnens im kollektiven Sinne (Bild 4).

Nach dem Zusammenbruch entwickelt sich die Insel zum Urlauhsparadies der Wirtschaftswunderkinder. Reiche und Schicke benötigen ihre Rahmen. Man trifft sich mal hier, mal dort. Man domiziliert nach Landessitte. In den Alpen alpin, im Wald blockgehüttet, auf der Insel friesisch, was man auch immer darunter versteht. Das Bauen auf der Insel besorgen nun Auswärtige. Investoren errichten Bettenburgen im Silostil, Reiche und Neureiche Zweit- und Drittwohnungen im Friesenhausstil. Friesisch muß es sein. Spitzgiebel, Halbwalmdach und Sprossenfenster sind nach wie vor unverzichtbar. Wer gleichgültiger ist, nimmt Kalksandstein und Kunstschieferbedachung (Bild 5).

Wer die Welt kennt, mischt Traditionelles mit Modernem. Ein bißchen friesisch, ein bißchen Fachwerk, ein bißchen Ziermauerwerk; in jedem Fall das Wagenrad an der Wand (Bild 6). Granitpflasterplatz für die Grillokomotive, Palisadenzaun für die Abfalltonne. Im Haus der obligate Kamin und der Nobelausbau wie ihn „Ambiente" und „Schöner Wohnen" aufzeigen. Die Umgebung der Häuser hat nichts Inseltypisches mehr, alles hochgestylt und wie Ohlsdorfer Friedhof wirkend. Die Garagen für die Edelkarossen reetgedeckt und mit funkgesteuertem Afzeliator, die Beschläge vom Kunstschmied oder in schwerem Messingguß. Alle bescheidenen Details der Altbauten nun schöner, edler, teurer, übertriebener.

Aber das Friesenhaus läßt sich noch weiter aufpumpen. Für Geldanleger und Abschreibungskünstler gibt es jetzt Friesenburgen und Kapitänshöfe (Bild 7). Einheimischen Architekten ist es gelungen, im Neoneubarockstil das ehemals kombinierte Wohn-Wirtschaftsgebäude des 18. Jahrhunderts den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Zum „Verkaufsschlager" für eine nostalgiebewegte Käuferschicht sind Hausmonstren geworden, die in Form und Gestaltung Stilelemente der alten Bauern- und Kapitänshäuser kopieren und willkürlich zusammenwürfeln. In völliger Verkennung ihrer ehemaligen Funktion reihen sich da Stallfenster an Terrassentüren, Backengiebel an Spitzgiebel, Rauch-, Dunst und Lüftungsrohre werden zu Riesenschloten vereint, die die Dächer wie Laubenkolonien besiedeln. Jeder bekommt sein eigenes Friesenhausappartement im Gesamtfriesenhaus, auch wenn der Grundriß dabei wie ein Wurm gekrümmt werden muß, damit die kleinen Grundstücke optimal ausgenutzt werden können. Man/frau muß auf nichts mehr verzichten. Swimmingpool, Sauna und Fitness-Raum unter der Erde, da wo früher einmal die Kartoffelgrube war. Die Sammelgarage als Tiefgarage direkt unter dem Haus, das man für diesen Zweck zwar anheben muß, dafür wird der früher so simple Zugang zum Haus nun zum Aufstiegsbauwerk. Stützmauern aus eiszeitlichen Findlingen, Treppenstufen aus behauenem Granit oder Porphyr aus Italien. Ziegelfliesen aus Frankreich, Käsebretter aus Holland, Holz aus den Tropen, Carrara-Marmor für die Stereoanlage müssen für den Innenausbau schon sein.

Das Verlangen nach diesen Karikaturen ist ungebrochen. Der Friesenhausbau boomt. Bekommen die Sylter goldene Nasen?

Autor Peter Schafft ist stellvertretender Leiter des Landesamtes für Denkmalpflege in Kiel. Er betreute als Dezernent viele Jahre lang den Kreis Nordfriesland. Quelle: IGB-Archiv, Maueranker 02/1994

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